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Donnerstag, 29. November 2018

Radiologiepraxen sind merkwürdige Orte

Man sitzt, vereint in Angst, im Warteraum, wie Lämmer, auf dem Weg zur Schlachtbank, alle irgendwie in "Es ist was schlimmes"-Panik. Man kann die Angst förmlich riechen - oder es ist das Desinfektionsmittel...
Es scheint außerdem üblich zu sein, dass reihum jeder, mehr oder weniger, seine Story erzählt oder, zumindest, der gerade erzählten Story in ihrer Schrecklichkeit beipflichtet - wie in einer Selbsthilfegruppe oder bei den Anonymen Alkoholikern.

Herr Schlutterer (als Frau Schlatterer von ihrer Untersuchung zurückkommt): Na, wie war´s denn, schlimm?
Frau Schlatterer: Ach, ist mir so heiß so von diesem Kontrastmittel und ganz duselig. Schlimm ist das.

Nicht, dass Frau Schlutterer und Herr Schlatterer zusammen hier wären oder sich kennten, nein, aber offensichtlich wurden hier schon Informationen ausgetauscht, bevor ich zu dieser illustren Wartegruppe hinzukam.

Herr Schlutterer: Ja, ja, das war bei mir auch so. Da wird es einem ganz heiß.
Frau Schlitterer blickt von Ihrer Brigitte auf: Ja, schlimm das mit dem Kontrastmittel, wirklich schlimm.

Sprechstundenhilfe: Frau Schlitterer, bitte!
Frau Schlitterer tappt raus, falsche Richtung, Kehrtwende, jetzt aber.

Es kommt Herr Schlotterer in Wartezimmer, er sagt "Hallo." und grinst mich an.
Ich sage "Hallo." und grinse zurück. Warum auch nicht? Wir beide senken den Altersdurchschnitt in diesem Wartezimmer um gefühlte 70 Jahre. Er sieht ganz nett aus.
Herr Schlotterer füllt das Datenschutzformular aus, Frau Schlatterer lächelt ihn aufmunternd an.
Frau Schlatterer: Wissen sie, ich hab so Probleme mit dem Kontrastmittel. Hach ja, das Hirn macht schon komische Sachen...ich war mal bei einer Freundin zu Besuch und da war mir kalt und dann hat die ein Video mit Kaminfeuer laufen lassen. Und wissen sie was? Mir wurde gleich ganz warm, obwohl es gar nicht warm war.
Herr Schlotterer: Ja, das stimmt. Wissen sie, ich habe mal von einem Fall gehört, da hat sich ein Mann in Großbritannien versehentlich in einem Kühlhaus eingesperrt und ist erfroren, obwohl das Kühlhaus gar nicht eingeschaltet war, nur weil er absolut davon überzeugt war, dass es da kalt ist. Das kann man googeln.
Herr Schlutterer: Ja, ja, das Gehirn, das macht seltsame Sachen.

Frau Schlitterer kommt wieder, setzt sich: Ach, jetzt bin ich ganz durcheinander, hoffentlich ist nichts. Dieses Warten immer!
Herr Schlutterer: Ja, das ist schlimm, nicht? Das Warten.
Ja, warten finden wir alle schlimm, da sind wir uns einig.

Sprechstundenhilfe: Herr Schlutterer, bitte! Und gleich danach wird mein Name aufgerufen.

Ich kann in der Kabine, in der ich auf mein CT warte, hören, wie die Ärztin mit Herr Schlutterer sein CT bespricht. Er hat nichts, wie schön - da wird er sicher ganz erleichtert sein.
Ich bin dran, das CT wird gemacht, danach geht´s zurück ins Wartezimmer.

Sprechstundenhilfe: Herr Schlotterer, bitte!
Jetzt kann das gesamte Wartezimmer hören, warum Herr Schlotterer hier ist. Er hat Probleme beim Wasserlassen und naja, auch sonst ist es mit dem Pillermann nicht so ganz optimal - Was? In diesem jungen Alter, meint Frau Schlatterer dazu - und die Radiologin fragt, ob es da nicht angebrachter wäre ein MRT und kein CT zu machen, wegen der Weichteile und schließlich wolle man ihm ja nicht die Eier frittieren. Sie kläre das mit der überweisenden Ärztin
Gut, so hat es die Radiologin natürlich nicht ausgedrückt, sondern in Medizinsprech, aber im Wesentlichen ging es darum.
Herr Schlotterer kommt wieder und setzt sich. Er grinst mich an.
Ich grinse zurück, schadet ja nicht.
Okay...hat er mitgekriegt, dass das komplette Wartezimmer weiß, was sein Problem ist? Falls ja, ist er bemerkenswert selbstbewusst. Ich bin beeindruckt.

Frau Schlitterer hat jetzt ihr Arzt-Gespräch - Frau Schlatterer lässt sich daher zu der Vermutung hinreißen, dass man sie wohl hier vergessen habe - und sie kommt selig, nachdem sie dreimal am Wartezimmer vorbeigelatsch ist, wieder, weil sie nichts hat. Dennoch kann sie es nicht verstehen, dass sie ständig in die falsche Richtung läuft und den Ausgang nicht finden kann.
Sie wirkt etwas aufgelöst, aber von den Wartenden bestätigt, dass das schon mal vorkommt, wenn man älter wird und sie jetzt doch schon auch ein bisschen Stress gehabt hatte, findet sie letztendlich doch den Ausgang aus der Praxis.

Frau Schlatterer ist mittlerweile überzeugt, dass man sie vergessen hat. Ich erzähle daher kurz die Geschichte davon, wie man mich mal im MRT vergessen hat, weil, und das ist natürlich sehr unschön, ein älterer Herr im Wartezimmer einen Herzinfarkt erlitten hat, und man sich dann selbstverständlich eher um den kümmert, als um die Tussi in der Röhre. Wieder sind sich alle einige: in der Röhren vergessen werden ist schon schlimm, aber natürlich muss man sich erst mal um den Herzinfarktpatienten kümmern, da muss man als Patient, der in der Röhre steckt, schon auch Verständnis für haben.

Frau Schlatterer: Ja, also, der Herr Schlutterer vorhin, der war ja total überzeugt, dass er Krebs hat. Gut, dass es nicht so ist, nicht?
Aha, sein Arztgespräch konnten auch alle hören, interessant.
Ja, natürlich, das ist toll - wir pflichten ihr alle bei.
Und außerdem möchte sie ja schon wissen, ob sich diese Strahlung da wieder abbaut und wie lange das dann dauert.
Ich erkläre ihr kurz das Prinzip, nicht dass Frau Schlatterer jetzt Angst hat, sie sei radioaktiv, und ernte erfürchtige Blicke.

Herr Schlotterer bekommt sein MRT und muss dafür in ein anderes Gebäude. Er steht auf, packt seinen Krempel, kommt auf mich zu und steckt mir einen Zettel zu: "Fall sie Lust haben, oder auch nicht.", sagt er.
Das Wartezimmer erstarrt in Schweigen. Frau Schlatterer und Frau Schletterer, die ist wohl dazugekommen während ich im CT war, grinsen und blicken sich vielsagend an.
Ich: Ähm, Danke?

Die Sprechstundenhilfe holt mich zum Arztgespräch, außer einer schiefen Nasenscheidewand, ist da nichts. Und sie ist nicht so schief, dass man was tun müsste. Prima. Ich sage der Ärztin, dass Frau Schlatterer meint, vergessen worden zu sein. Die Ärztin verspricht brav gleich danach zu schauen.

Als ich wiederkomme um meine Sachen zu holen, meint dann Frau Schletterer zu mir: Ach, ist es nicht schlimm? Wenn schon so junge Leute, wie Sie hierher müssen, bei uns Alten, ach..., aber so jung.

Ich: Also, nein, so schlimm ist es jetzt eigentlich nicht, es ging nur um meine Nebenhöhlen und meine schiefe Nasenscheidewand, man musste nur schauen, ob man was dran machen muss. Muss man nicht, alles gut.

Frau Schletterer scheint schon ein bisschen enttäuscht, ich falle wohl aus dem Rahmen, man wünscht mir aber dennoch alles Gute.
Danke. Es war sehr nett mit ihnen.

Ich verlasse die Praxis, lachend, mir hat echt noch nie jemand seine Nummer zugesteckt...